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Ihr müsst alle nach meiner Pfeife
tanzen
Totentänze vom 15. bis zum 20. Jahrhundert
aus den Beständen der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
und der Bibliothek Otto Schäfer Schweinfurt |
Der jähe massenhafte Tod in den Zeiten des Spätmittelalters mit seinen
Pestepidemien und Seuchen ist eine Grundvoraussetzung für die Entstehung
der Totentänze, die zuerst als monumentale Freskenzyklen Kirchen,
Klöster und Friedhofsmauern schmückten. Als gemalte Bußpredigt mahnten
sie alle Stände der christlichen Gesellschaft vom Papst bis zum Bettler,
nicht als Sünder vom Tod überrascht zu werden, und riefen alle Menschen
zur Umkehr und zu einem gottgefälligen Leben auf. In einem großen
Reigen führen Personifikationen des Todes "springlebendig"
die widerstrebenden, fast erstarrten Lebenden streng hierarchisch
aufgereiht zum Tanz. Diese Ambivalenz des Makabertanzes, der ebenso
zugleich die christliche Ständelehre wie ihre Aufhebung vor dem Tod
propagieren konnte und damit auch Raum zur Ständekritik bot, haben
dieser Gattung des Memento mori bis in unsere Tage Faszination verliehen.
Die beiden bedeutendsten, heute nicht mehr existierenden Freskenzyklen
des deutschsprachigen Raumes, die Totentänze von Basel und Lübeck,
bilden mit ihrer Rezeption bis in die Gegenwart einen Schwerpunkt
der Ausstellung. Ihre sprichwörtliche Berühmtheit, die u. a. durch
das geflügelte Wort "He süht ut as de Dood van Lübeck" belegt
ist, machte sie frühzeitig zu Sehenswürdigkeiten, die die jungen Adeligen
auf ihren Kavalierstouren nicht auslassen durften. Seit dem Barock
werden daher die wichtigsten monumentalen Totentänze in graphischen
Folgen immer wieder reproduziert.
Aber bereits im ausgehenden 15. Jahrhundert hatte sich der Totentanz
von den Kirchenmauern gelöst und etablierte sich als eigenständige,
individuelle Erbauungsschrift, die religiöse Unterweisung und anspruchsvolle
Unterhaltung bieten will. Der ursprüngliche Reigentanz wird dafür
in Einzelbilder aufgespalten, die mit Holbeins 1538 erstmals veröffentlichten
"Bildern des Todes" völlige Unabhängigkeit voneinander erlangen.
Der Tod sucht die Menschen nun in ihrem Alltag heim, Kritik vor allem
an den geistlichen (=katholischen) Ständen dominiert, aktuelle Ereignisse
wie der Bauernkrieg hinterlassen ihre Spuren. Verzichtet wird auch
auf den Dialog zwischen Tod und Mensch, den Bibelzitate und moralische
Kommentare ersetzen. Die Holbeinschen Vorlagen werden über zwei Jahrhunderte
lang kopiert oder variiert und bestimmen so lange Zeit das Bild des
Totentanzes. Neuschöpfungen auch in der monumentalen Kunst
bringen vor allem die Totenbruderschaften im Barock hervor.
Abraham a Sancta Clara, der geistliche Vater der Wiener Bruderschaft,
lässt in der Hofkirche einen neuen Zyklus nach seinen Entwürfen anbringen,
den er als "Totenkapelle" auch in Buchform publiziert.
Die Makabertänze der Aufklärung möchten den Menschen die Angst vor
dem Tod nehmen. Daher tritt jetzt "Freund Hein" den Sterbenden
gegenüber, die keine Standesvertre-ter mehr sind, sondern gleichrangige
Individuen. Die vorherrschende Sittenkritik läßt den Tod vielfach
selbstverschuldet erscheinen. Tödliche Unfälle im Heißluftballon oder
bei chemischen Experimenten verweisen schon hier auf die "modernen"
Totentänze des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die immer
häufiger die Risiken der Industriegesellschaft thematisieren: Zug-
und Automobilunfälle, defekte Gasleitungen und Luftverschmutzung.
Zuvor hatte Alfred Rethel mit seinem berühmten Holzschnittzyklus "Auch
ein Todtentanz" von 1849 den Makabertanz endgültig politisiert,
in dem der Tod die Menschen zur Revolution verführt; diese fordert
nach Rethels Ansicht nur sinnlose Opfer und kennt nur einen Sieger
den Tod. Die Totentänze des 20. Jahrhunderts bestimmt vor allem
die Auseinandersetzung mit dem Krieg, mit der Bedrohung des Menschen
durch den Menschen; später tritt auch die Umweltzerstörung hinzu.
Der warnende Tod, der zu christlicher Umkehr aufruft, hat endgültig
ausgedient, und der Makabertanz hat sich zu einem säkularen Thema
gewandelt.
Herzog August Bibliothek und Bibliothek Otto Schäfer haben weitestgehend
aus ihren eigenen Beständen eine Auswahl getroffen, die diesen Wandel
des Totentanzes vom 15. bis zum 20. Jahrhundert in seinem wichtigsten
Medium nämlich Druckgraphik und Buch in rund 80 Beispielen
dokumentiert. U.a. sind Arbeiten von Michael Wolgemut, Hans Holbein
d.J., Jobst de Necker, Matthäus Merian d.Ä., Eberhard Kieser, Rudolf
und Konrad Meyer, Salomon van Rustingh, Christian von Mechel, Johann
Rudolf Schellenberg, Daniel Nikolaus Chodowiecki, Alfred Rethel, Tobias
Weiss, Joseph Sattler, Lovis Corinth, Alfred Kubin, Frans Masareel,
HAP Grieshaber, Horst Janssen und Felix M. Furtwängler zu sehen.
Der Ausstellungskatalog enthält folgende Beiträge:
- Dr. Irmgard Wilhelm-Schaffer (Neunkirchen): "Ir mußet alle
in diß dantzhus". Zu Aussage, Kontext und Interpretation des
mittelalterlichen Totentanzes.
- Patrick Layet (Ostfildern-Ruit): La Danse macabre des hommes et
des femmes.
- Dr. Franz Egger (Basel): Der Basler Totentanz.
- Patrick Layet (Ostfildern-Ruit): Basler Totentanz 1583.
- Prof. Dr. Winfried Frey (Frankfurt): Das machet der Todten-Tantz.
Zu Tradition und Funktion der Totentänze am Beispiel des (Groß-Basler
Totentanzes.
- Prof. Dr. Hartmut Freytag (Hamburg), Dr. Brigitte Schulte (Castrop-Rauxel)
und Dr. Hildegard Vogeler (Lübeck): Der Totentanz in der Marienkirche
in Lübeck von 1463 und seine Weiterwirkung bis in die Gegenwart.
- Dr. Uli Wunderlich (Düsseldorf): Zwischen Kontinuität und Innovation.
Totentänze in illustrierten Büchern der Neuzeit.
- Brigitte Schulte (Duisburg): Der Totentanz vor dem Hintergrund
der industriellen Revolution und den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges.
- Jens Guthmann (Frankfurt): Die Bedrohung des Menschen durch den
Menschen. Totentanz in der bildenden Kunst seit dem Zweiten Weltkrieg.
276 Seiten.
118 Abbildungen. Broschiert.
Wiesbaden 2000.
ISBN 3-447-04351-2
Der Katalog kostet in der Ausstellung 15 Euro. Die gebundene Ausgabe
ist im Buchhandel für 39 Euro erhältlich.
Letzte Aktualisierung: 27.12.2006
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